Erinnerungen und Gespräche

Fülszöveg

Seit 1948 hat Strawinsky seinem 41 Jahre jüngeren Assistenten und Vertrauten Robert Graft eine bevorzugte Rolle als Partner und Mittler solchen Dialogs zugeteilt. Grafts genaue und stimmungsvolle Tagebuchaufzeichnungen ergänzen das Wort des Meisters, der ! zugleich Russe war und in der abendländischen Kultur heimischer Weltbürger, von Ur-kräften bewegt und von verfeinerter Bildung geprägt. In hohem Alter, in quälender Krankheit verschmähte Strawinsky Weisheitsgesten und Zurückgezogenheit, seine Lebensneugier blieb so unversehrt wie die Frische seines Geistes. Von ihr zeugen seine Beschäftigung mit moderner und modernster Musik, seine scharfe Beobachtung der Vorgänge in seiner jeweiligen Umwelt, sein intellektuelles Spiel mit gegenwärtigen und historischen Erscheinungen, das sich im kokettkomplizierten Bau seiner Sätze und im witzigen Gebrauch vertrackter Vokabeln niederschlägt. Der künstlerische und geistige Souverän, dem keine Schwäche entgeht, weiß zu verehren und dabei das... Tovább

Fülszöveg

Seit 1948 hat Strawinsky seinem 41 Jahre jüngeren Assistenten und Vertrauten Robert Graft eine bevorzugte Rolle als Partner und Mittler solchen Dialogs zugeteilt. Grafts genaue und stimmungsvolle Tagebuchaufzeichnungen ergänzen das Wort des Meisters, der ! zugleich Russe war und in der abendländischen Kultur heimischer Weltbürger, von Ur-kräften bewegt und von verfeinerter Bildung geprägt. In hohem Alter, in quälender Krankheit verschmähte Strawinsky Weisheitsgesten und Zurückgezogenheit, seine Lebensneugier blieb so unversehrt wie die Frische seines Geistes. Von ihr zeugen seine Beschäftigung mit moderner und modernster Musik, seine scharfe Beobachtung der Vorgänge in seiner jeweiligen Umwelt, sein intellektuelles Spiel mit gegenwärtigen und historischen Erscheinungen, das sich im kokettkomplizierten Bau seiner Sätze und im witzigen Gebrauch vertrackter Vokabeln niederschlägt. Der künstlerische und geistige Souverän, dem keine Schwäche entgeht, weiß zu verehren und dabei das Große einzuordnen in den noch größeren Zusammenhang, dem auch das eigene Schaffen angehört. Er dringt in das Werk und die Biographie des Gesualdo ein, würdigt Debussy, verneigt sich vor dem Mozart der »Zauberflöte« und huldigt dem Beethoven der letzten Quartette mit einer ana-' lytischen Rezension, die Werkstattgespräch , ist. Vergänglichkeit und Dauer sind der To-j desnähe gleichermaßen bewußt. Die Frage, i die über einem der schönsten Dialoge steht, ist geheimes Motto dieses Buches: »Wo ist dein Stachel?«
Hätte der überragende Musiker seiner - und noch immer unserer - Epoche nicht ein weitgespanntes und reiches Leben lang (1882 bis

1971) das Pathos vermieden oder verborgen, so müßte man seine späten Gedanken und Sentenzen, Erkenntnisse und ,Bekenntnisse Igor Strawinskys Vermächtnis im Wort nennen. Diese Evokationen, Essays, Rezensionen, Interviews, grundsätzlichen und gelegentlichen Äußerungen sind Bruchstücke eines großen Dialogs. Strawinsky hat in der Tat dialogisch gelebt. Seine Musik wuchs aus der Auseinandersetzung, dem Dialog mit anderer Musik, mit der Musik schlechthin. Die Partner oder Gegenstände seines gesprochenen, geschriebenen Dialogs sind Zeit und Zeitgenossen, Kunst und Künstler, sind Welt und Gott. Brillant Gesagtes macht halt vor Unsagbarem, die Vielfalt der Themen und Mitteilungsformen und zumal der (scheinbaren) Wandlungen des Komponisten selbst ist aufgehoben in der Einheit einer unvergleichlichen, bei aller Rastlosigkeit beharrlichen Persönlichkeit. Sie verbürgt die Einheit dieses Buches. Vissza